Dies ist die zwölfte von mir übersetzte Folge von Mindy McAdams’ “Reporter’s Guide to Multimedia Proficiency”. Diese Folge heißt im Original “Learn to shoot video” In der elften Folge ging es darum, sicherzustellen, dass man eine Reportage findet, die es wert ist, in Bild und Ton erzählt zu werden, und wie man sie aufbaut, damit sie funktioniert. In dieser Folge geht es darum, wie man diese Prinzipien auf Video anwendet, und um gute Videoaufnahmetechniken.
Vorbemerkung: Alle “ich” Nennungen sind aus der Perspektive von Mindy McAdams geschrieben.
Lassen Sie uns zunächst Ihre Story betrachten. Haben Sie überhaupt eine Reportage? Eine erstaunliche Zahl von Journalisten in der Ausbildung (und auch mit Berufserfahrung) scheint eine gute Reportage nicht mal zu erkennen, wenn sie ihnen vor die Füße fällt.
Ein Webvideo bleibt uninteressant, wenn es nur Fakten oder Informationen vermittelt. Die umgekehrte Pyramide (Text) oder das Nachrichten-Bulletin (Radio) sind keine Erzählformate – auch wenn wir im Journalismus dazu neigen, alles “eine Geschichte” zu nennen.
Erinnern Sie sich daran, was eine Geschichte wirklich ist: Schneewittchen und die sieben Zwerge, Harry Potter, Star Wars, Aladdin und die Wunderlampe, Der Wettlauf zwischen Hase und Igel, Iliad und Odysseus. Eine Geschichte ist nicht die Wiedergabe von Fakten – das ist ein Bericht, keine Geschichte.
Eine Geschichte finden
Ken Speake, der fast 40 Jahre beim Fernsehen gearbeitet hat, sagt immer, dass ein Journalist, der sich von seiner Neugier leiten lässt, überall interessante Geschichten finden kann. Ken sieht die Welt fast wie ein Kind. Kleine Kinder fragen immerzu “Warum?” Das kann einen manchmal verrückt machen, wenn es um die banalsten Dinge geht. Wie geht das? Warum sieht das so aus? Was macht das? Warum steht der Mann auf einer Leiter? Wie ist er dahingekommen? Wohin geht er jetzt?
Diese Fragen können uns in versteckte Gässchen und Hinterzimmer führen, hinter die Kulissen und zu den verborgenen Plätzen in den Seelen der Menschen. Das sind die Orte, wo Geschichten leben, und dort müssen Sie nach ihnen suchen.
Um dorthin zu gelangen, müssen Sie neugierig sein. Sie müssen sich für Ihr Thema interessieren und Geduld mitbringen. Niemand öffnet Ihnen die Tür zu seinem Inneren, wenn sie ihm eine Kamera ins Gesicht drücken und Ihre Fragen abfeuern.
Kultivieren Sie die Fähigkeit eine Geschichte zu erkennen
Letztes Jahr haben einige meiner Journalistenschüler ein Tätowierstudio besucht, um Aufnahmen für eine Audio-Slideshow zu machen – und sie verpassten eine Riesenchance, eine lebendige Reportage mitzubringen. Alle Journalismus-Dozenten wissen: Journalistenschüler lieben Tätowierstudios. Sie glauben, sie würden dort gute Geschichten finden. Meistens finden sie keine — stattdessen kommen sie mit einem sehr langweiligen Interview mit dem Besitzer des Studios zurück, der von seinen Kunden erzählt und seine besten Designs zeigt. Gähn!
Warum ist das eine langweilige Geschichte? Weil sie so vorhersehbar ist. Es gibt keinen Aufhänger, nichts, das irgendwie aus dem Rahmen fällt. Dem Interview fehlt es an einer emotionalen Verbindung, etwas, das Ira Glass einen “Moment der Besinnung” nennt (engl.) Es ist der Grund für die Geschichte. Es ist das, was die Geschichte ausmacht.
Zu der Zeit, als meine Journalistenschüler im Tätowierstudio waren, bekam eine 18-jährige Studentin ihr erstes Tattoo. Meine Schüler brachten einige schöne Fotos vom Verlauf der Tätowierung mit. Sie führten auch ein kurzes Interview mit ihr. Sie sagte, ihr Vater habe seine Tätowierung vor einer Weile im gleichen Studio bekommen, und das sei ein Grund, warum sie hier jetzt auch eine bekäme. Mein Schüler hatten den Vater fotografiert, wie er mit einem der Tätowierer redet. “Habt Ihr den Vater interviewt?” fragte ich. Nein. “Habt Ihr seine Tätowierung fotografiert?” Nein. Habt Ihr ihn gefragt, ob er Euch sein Tattoo zeigen mag?” Nein.
Wie schon erwähnt: Manche Journalisten sehen die Geschichte nicht, wenn sie ihnen direkt vor die Füße fällt.
Aber es wurde noch schlimmer. Ich sah mir ihre Fotos an und bemerkte, dass während die 18-Jährige auf dem Tisch lag und der Tätowierer sich mit seiner Nadel über sie beugte, eine Mittvierzigerin dabei zusah. “Wer ist diese Frau?” fragte ich.
“Ach, das ist ihre Mutter.”
“Die Mutter der jungen Frau?” rief ich. “Habt ihr mit ihr gesprochen?” Nein.
Ich werde meinen Jounalistenschülern nie sagen, dass sie nicht in ein Tätowierstudio gehen können – es gibt dort fantastische Geschichten zu entdecken, und vielleicht wird sie eines Tages ein Journalistenschüler auch wirklich finden. Aber wenn Sie vor Ort sind und sich nicht wirklich für die Menschen dort interessieren, und nicht bereit sind, sich auf etwas einzulassen, dass Sie nicht vorhergesehen hatten, dann werden sie die Geschichte nicht sehen, die vor ihren Füßen liegt.
Halten Sie Ausschau nach visuell interessanten Szenen
Als ich 2007 einen viertägigen Video-Workshop mit Michael Rosenblum besuchte, erzählte er uns Teilnehmern etwas, das ich auch schon von vielen Fotografen gehört habe: Zunächst ohne die Kamera hingehen.
Schauen Sie sich um. Reden Sie mit den Leuten. Stellen Sie Fragen. Machen Sie keine Bilder, halten Sie niemandem ein Mikrofon vor die Nase. Machen Sie sich höchstens einige handschriftliche Notizen.Was Sie in dieser Phase tun: Sie suchen nach der Handlung und den Szenen, aus denen interessante Videosequenzen entstehen können. Denken Sie daran: Es geht hier nicht um Nachrichten, sondern darum, eine Geschichte zu erzählen. Die Menschen, die Sie jetzt nur beobachten, werden ihre Handlungen auch anschließend noch fortführen. Sie verpassen keinen einzigartigen Moment in der Geschichte, wenn Sie nicht sofort mit Kamara und Mikrofon draufhalten.
Reden Sie soviel wie möglich mit den Menschen und stellen Sie vor allem viele “Warum?” und “Wie?” Fragen. Dies ist noch nicht das Interview für ihre Tonaufnahme. Es ist die Grundlage für Ihre Geschichte.
Bevor Sie zu Ihrem Auto oder zu Ihrer Tasche zurückkehren, um die Kamera zu holen, müssen Sie sich darüber klar werden, was die Geschichte ist. Erwarten Sie nicht von Ihrer Kamera, dass sie die Geschichte von alleine findet. Sie wird ihnen diesen Gefallen nicht tun.
Filmen Sie erst, interviewen Sie danach
Auch das habe ich von Rosenblum gelernt (und es widerstrebt der intuitiven Vorgehensweise vieler TV- und Printjournalisten, die gelernt haben mit der Videokamera umzugehen). Aber die Logik ist simpel: Wenn Sie erst interessante Szenen filmen, dann werden Sie anschließend die richtigen Fragen dazu stellen. Wenn Sie aber die Menschen erst interviewen, dann werden Sie dazu neigen, hinterher vor allem solche Szenen zu filmen, die das Gesagte illustrieren – was nicht unbedingt die visuell interessantesten Szenen sind.
Die von Ihnen interviewte Person spricht darüber, wozu Sie Fragen stellen.
Wenn Sie sich von Ihrer Neugier leiten lassen, ist es wahrscheinlicher, dass Sie auch unerwartete Fragen stellen – und interessante und offenbarende Antworten erhalten. Wenn Sie das Bildmaterial mit unverstelltem Blick einfangen – mit dem Auge des Kindes, dass immer “Warum?” fragt – dann steigt, die Wahrschienlichkeit, dass sie eine originelle, sehenswerte Geschichte einfangen.
Nehmen wir an, Sie haben einen Jungen auf dem Wochenmarkt gefilmt, wie er auf dem Boden hinter einem Verkaufstisch sitzt und mit einem Messer Brokkolistengel abschneidet. Dann haben Sie seine Mutter interviewt, die hinter dem Tisch steht und ihr Gemüse verkauft. Weil Sie wissen, dass Sie einige schöne Aufnahmen von dem Jungen haben, stellen Sie ihr auch einige Fragen zu Ihrem Sohn. Wenn Sie die Aunfhamen nicht schon hätten, wären sie eher versucht, sich nur auf die Mutter als Hauptperson am Stand zu fokussieren.
Ich habe mehr als ein Dutzend sehr langweilige Videoreportagen über lokale Wochenmärkte gesehen. Alles was ich darin zu sehen und hören bekam, war vollkommen vorhersehbares Zeug darüber, wie es ist, ein Bauer zu sein und frisches Obst und Gemüse feilzubieten. Es ist sinnlos, solche Reportagen zu produzieren, die aus nichts anderem bestehen, als genau den Eindrücken, die sich jeder normale Mensch bei einem Besuch auf dem Wochenmarkt auch selbst verschaffen kann und die genau die Erwartungen und Erinnerungen an Bauern und Märkte hervorrufen, die jeder ohnehin hat.
Filmen Sie Handlung, Emotion und ein drittes Element
Der Brookkoli putzende Junge ist Handlung, Aktivität. Die am Stand stehende Frau ist keine Handlung. Selbst wenn sie Gemüse abwiegt eintütet, einem Kunden die Tüte herüberreicht und sein Geld kassiert, ist das ziemlich langweilig anzusehen.
Neulich habe ich Bildmaterial von einem meiner Studenten gesehen. Es zeigt eine Frau, die eine Cantaloupe in einem Supermarkt aussucht. Es sah interessant aus, weil die Sequenz aus extremen Nahaufnahmen ihrer Hände bestand, die sich nacheinander um verschiedene Cantaloupen schlossen. Die Kamera zeigte ihr Gesicht ganz aus der Nähe, als sie eine Melone an ihr Ohr hielt und sie ein wenig schüttelte. Dann gab es eine Einstellung von hinten und oben herab, die uns den Berg aufgetürmter Cantaloupen zeigte. Die Frau schien sich auf ihr Tun völlig zu konzentrieren. Das war als Filmsequenz nicht schlecht.
Den Dreiklang der Erfolgselemente im Video (s. Zwischenüberschrift) habe ich von Angela Grant, die mehrere Jahre lang Webvideos für eine Tageszeitung in Texas gedreht hat. Sie nannte die drei Elemente “viel Bewegung und Action”, Emotionen und “etwas, was die Leute einfach gerne sehen wollen”. Ich nenne sie “Aktion oder Handlung”, Emotion und “das muss man gesehen haben, um es zu glauben”.
Angela hat mir auch das bestmögliche Beispiel aus der dritten Kategorie gezeigt, aus der Zeitung “The Spokesman-Review” in Spokane (US-Bundesstaat Washington): das Video vom gelähmten Hund , aufgenommen von Dan Pelle. Dieses Video ist ein Hattrick, weil es wirklich alle drei Elemente vorzüglich kombiniert.
Dagegen ist die Auswahl einer Cantaloupe im Supermarkt keine besonders aufregende Handlung – aber Sie können sie visuell interessant gestalten, wenn Sie mit Bedacht filmen.
Die Fünf-Einstellungen-Methode
Nehmen wir an, Sie haben eine Handlung identifiziert, die es wert ist, gefilmt zu werden. Gut! Nun stellen Sie sicher, dass Sie diese Handlung in fünf Einstellungen filmen:
- Extreme Nahaufaufnahme eines Handlungsdetails, z.B. ein Hand befühlt eine Cantaloupe
- Nahaufnahme des Gesichts der handelnden Person
- Mittlere Einstellung mit Händen und Gesicht im Bild
- Übe-die-Schulter-Perspektive der Aktion (= Perspektive der handelnden Person)
- Eine weitere Einstellung — seien Sie kreativ!
Sie werden für Ihre fertig geschnittene Endeversion nicht unbedingt alle fünf Einstellungen brauchen, aber wenn Sie sie haben, werden Sie feststellen, dass das Schneiden des Bildmaterials wesentlich leichter fällt. Sie haben dann auf jeden Fall genügend Material, um etwas Anständiges zusammen zu stellen. (s. dazu auch ein BBC Trainingsvideo , das die Methoden der fünf Einstellungen illustriert).
Colin Mulvany’s Blogpost beschreibt, warum diese Methode hilft, ihre Videoreportagen zu verbessern.
Wenn Sie ein Ereignis filmen wie “Sarah kauft Zutaten für einen Obstsalat” (Teil einer längeren Reportage wie “Sarah bringt Obdachlosen frisch zubereiteten Obstsalat”), dann werden sie Fünf-Einstellungs-Sequenzen brauchen. Cantaloupe ist eine, Bananenkauf vielleicht die zweite; Sarah verstaut die die Obsttüten auf ihrem Fahrrad vielleicht eine weitere. Das nächste Ereignis ist die Zubereitung des Obstsalats (Obst schälen, schneiden, zusammenstellen). Ein drittes Ereignis ist, wie Sarah Becher mit Obstsalat an den Plätzen verteilt, wo sich die Obdachlosen aufhalten.
Kamerabewegung
Es ist ziemlich wichtig, dass Sie die richtige Einstellung festlegen, bevor sie die Aufnahme starten. Wenn Sie die Kamera herumschwenken oder zoomen, ist es später schwer, das Material zu schneiden. Gewöhnen Sie sich an, die Einstellung festzulegen, die Aufnahme zu starten und mindestens zehn Sekunden lang regungslos zu verharrren. Dann erst BEENDEN Sie die Aufnahme. Auf diese Weise haben Sie auf jeden Fall genug Material in einer bestimmten Einstellung um sauber schneiden zu können. Drücken Sie nach einer Einstellung IMMER die Stop-Taste. Schwenken Sie NIE zur nächsten Einstellung herüber.
Diese Regeln sind besonders wichtig bei Webvideos, aber sie helfen auch generell Videoanfängern, sich langsam fortzuentwickeln und zu lernen, wie man gute Aufnahmen macht. Wenn Sie weiter fortgeschritten sind, können Sie diese Regeln natürlich brechen, (weil Sie dann wissen, wann und wie man das tut).
- Nicht schwenken (Nicht die Kamera horizontal bewegen)
- Nicht kippen (Nicht die Kamera vertikal bewegen)
- Nicht zoomen
- Drücken Sie häufig die “Record Off” Taste
Bitten Sie für eine journalistische Videoreportage NIEMALS die handelnden Personen, bestimmte Handlungen für Sie auszuführen. Sie werden lernen, wie man die Handlungen antizipiert, um sie im richtigen Moment einzufangen.
Wie? Üben, üben, üben.